Das außerordentliche an diesem Aquarell, das Albrecht Dürer 1532 gemalt hat, ist seine Perspektive. Wenn Du, lieber User, Dir mal einen Rasen anschaust, siehst Du ihn aus einer Distanz von vielleicht 1,50 bis 1,90 cm, das kommt auf Deine Körpergröße an. Und Du siehst ihn von oben herab, aus der Vogelperspektive.
Auf Augenhöhe
Die Wiese von Dürer ist anders. Sie ist auf Augenhöhe mit dem Betrachter. Der Künstler müsste auf dem Bauch in der Wiese gelegen haben, um sie so malen zu können. Etwas wahrscheinlicher ist, dass er es, wie damals üblich, in seinem Atelier aus einzelnen Skizzen von Blumen und Gräsern zu einem Ganzen komponiert hat.
Auf Augenhöhe mit diesem Stück Natur kann der Betrachter jedes einzelne Detail dieses Mini-Universums wahrnehmen und die außerordentliche Sorgfalt bewundern, mit der der Maler darin jeden Grashalm dargestellt hat. Eine Sorgfalt, die noch dem Glauben des Mittelalters verpflichtet war, dass ein Gott der Wunder diese Erde in sieben Tagen erschaffen habe und sich selbst im Kleinsten dieses Wunder der Schöpfung zeige.
Aber schon zu Dürers Lebzeiten diskutierte man bereits darüber, ob nicht das vom Menschen geschaffene Abbild der Natur, zum Beispiel im Bild eines Malers, in der Skulptur eines Bildhauers, großartiger wäre als die Natur selbst. Weil eine in Marmor gehauene Schönheit von Ewigkeit sein kann, aber alle Schönheit der Natur vergänglich ist.
Heute wissen wir, dass die Natur nicht sieben Tage, sondern Millionen Jahre gebraucht hat, um zu werden, aber das hat unseren Respekt ihr gegenüber nicht erhöht. Ganz im Gegenteil, längst schon betrachten wir die Natur von oben herab, ausschließlich aus der Perspektive des Menschen. Und in einem viel größeren Ausmaß als zu Dürers Zeiten schätzen wir die Werke des Menschen um so viel höher ein als die Werke der Natur. Was ist heute ein Stück Wiese wert, wenn man an dieser Stelle ein Einkaufszentrum für die Region errichten kann? Was eine der seltenen Moorlandschaften, wenn auf diesem Areal ein Flughafen Millionen einbringt?
Was definiert den Wert von Natur?
Naturschützer habe da einen verdammt schweren Stand. Es ist deshalb sicher eine Argumentationshilfe, die Natur zu einem nützlichen Leistungsträger zu erklären, wie in der Studie „Naturkapital Deutschland – TEEB DE“ (siehe Blogeintrag „Natur als Kapital“). Wenn es zum Beispiel darum geht, einen Gemeinderat davon zu überzeugen, dass es sich lohnt, die Wiese vor dem Dorf zu erhalten. Dass die Erhaltung von Mooren den Gemeinden Kosten für die Reinhaltung des Wassers in Höhe von 230 Mio Euro pro Jahr einsparen kann.
Aber ist es nicht auch gefährlich, mit dieser Argumentation die Natur als Leistungsträger zu definieren? Nur damit das dem Kosten-Nutzen-Faktor in den Berechnungen der Gemeinden entgegenkommt. Müssen nicht vielmehr wir Naturschützer diesem Denken ein anderes entgegenhalten?
Wir sind eine Leistungsgesellschaft, die schon ihre Kinder im Mutterbauch mit Mozart beschallt, damit sie später einmal musikalisch werden. Und es muss für den Nachwuchs ein zweisprachiger Kindergarten sein, als Vorarbeit für das Gymnasium und ein späteres Studium. Muss deshalb auch die Natur etwas leisten, damit wir sie am Leben lassen?
Was wird dann aus all der Natur, die für uns nichts Nachweisbares leistet? Wie etwa eine Moosflechte, die nicht nur klein, sondern zu ihrem Unglück auch kackbraun ist, also unnütz und unscheinbar im Auge des Menschen? Wie viel Natur darf dann noch sein?
Eine andere Ethik
Statt die Natur dem allumfassenden Leistungsdenken unserer Gesellschaft einzuverleiben, sollten wir Naturschützer diesem Leistungsdenken eine andere Ethik entgegenhalten: Natur ist nicht entstanden, um etwas zu leisten, sondern sie hat im Laufe von vielen Millionen Jahren um ihrer selbst willen ein ungeheuer komplexes, großartiges Dasein auf dieser Erde entwickelt. Das gilt es zu respektieren und zu schützen. Dafür müssen wir den Kosten-Nutzen-Denkern eine andere Perspektive vermitteln, damit sie ihren Wert erkennen. Eine Perspektive, wie sie Dürer dem Betrachter zeigt: der Natur auf Augenhöhe begegnen.
„Das große Rasenstück“ von Albrecht Dürer (Sammlung Albertina, Wien) zeigt u. a. Gänseblümchen, Löwenzahn, Schafgarbe, Ehrenpreis, Breitwegerich und Knäuelgras.