Wie kam die Orchidee auf die Fensterbank?
Die Frage klingt auf den ersten Blick, na ja, sagen wir mal nicht besonders intelligent. Aber sie ist berechtigt. Denn tatsächlich ist die Orchidee eine Pflanze, die von weit entfernten Gegenden dieser Erde kommt, die wir noch nicht einmal heute genau kennen, wie etwa die Gebirgslagen des Himalaya oder die Regenwälder Südamerikas. Sie wächst dort unter ganz anderen klimatischen Bedingungen als zum Beispiel in Wuppertal auf einer Fensterbank, direkt über der Zentralheizung. Und dennoch blüht sie. Zwischen ihrem Dasein in der Natur und dem auf der Fensterbank liegen fast 200 Jahre abenteuerliche, geschäftstüchtige, leidenschaftliche Beziehungsgeschichten von Menschen und der ganz besonderen Pflanzenschönheit. Und die Cattleya spielte dabei eine entscheidende Rolle.
Die Cattleya. Eine ziemlich dicke Lippe.
Dass es Orchideen gibt, war in Europa bekannt, seit spanische Seefahrer die Exoten aus dem neu entdeckten Amerika mitbrachten. Der deutsche Pfarrer und Botaniker Hieronymus Bock sah sich um 1580 das fremdartige Geschöpf genau an und beschrieb es als etwas, das unten ausschaue wie eine Hornisse und oben wie ein Vögelein.¹)
Damit kam er einer der raffiniertesten Orchideen-Merkmale schon sehr nahe. Orchideen haben nicht wie andere Blüten gleiche Blütenblätter, sondern können durch einen bestimmten DNA-Code unterschiedliche Formen ihrer Blütenblätter ausbilden, wissen wir heute. Es gibt Orchideen, die damit in ihren Blütenformen tatsächlich das Aussehen von Insekten annehmen. Warum der ganze Aufwand? Um damit ihre ganz spezifischen Bestäuber wie Vögel oder Insekten anzulocken. Orchideen säen sich nicht aus, sondern müssen durch die Pollen einer anderen Pflanze ihrer Art bestäubt werden. Und das geht nur über einen Fremdbestäuber.
Die erste blühende tropische Orchidee, eine Art aus Curacao, wurde 1698 in Holland bestaunt. Die Royal Botanic Gardens in Kew, England, bekamen 1760 Epidendrum rigidum als erste tropische Orchidee. Nur acht Jahre später konnten die königlichen Gärten bereits 24 Orchideen-Arten verzeichnen. Aber erst die Cattleya löste 1818 einen wahren Orchideen-Boom aus, und das durch Zufall.
In diesem Jahr erhielt der englische Händler William Cattley, der tropische Pflanzen als Amateur kultivierte, eine Lieferung von Exoten von William Swainson aus Brasilien². Die Pflanzen waren in starken steifen Blättern verpackt. Das Verpackungsmaterial erregte das Interesse Cattleys. Pflanzen dieser Gestalt waren bis dahin in Europa unbekannt. Die Sensation war enorm, als es Cattley noch im November 1818 gelang, eine davon zum Blühen zu bringen. Die Blüte war mit ihren großen Blättern und der trompetenartigen prächtig gefärbten Lippe (Labium) überwältigend. Cattley zu Ehren wurde sie Cattleya Labiata genannt.
Swainson, der eigentliche Entdecker der Orchidee, wurde bestürmt, den Standort des Blumenwunders preis zu geben, aber er behielt ihn eifersüchtig für sich. Mehrere Naturforscher machten sich in Brasilien vergeblich auf die Suche nach der Cattleya. Erst 1889 wurde sie im brasilianischen Bundesstaat Pernambuco wiederentdeckt.
Heute kennt man 38 Arten der Cattleya Familie, die ihren natürlichen Lebensraum in Zentral- und Südamerika haben.
Illustration: Henry Moon (1857 – 1905)
Reichenbachia, Orchids Illustrated & Described, 1888 – 1894, Hrsg. Frederick Sander
1) Bock erkannte die Orchidee aber nicht als Pflanze, sondern vermutete, sie stamme von einer Drossel ab. Hieronymus Bock: Kreütterbuch. Darin underscheidt Namen u. Würckung d. Kreütter, Stauden, Hecken u. Beumen, sampt ihren Früchten, so inn Teutschen Landen wachsen. Straßburg 1580
2) William Swainson (1789- 1855) war Autodidakt. Er entwickelte durch Studien der Muschel- und Insektensammlungen seines Vaters seine naturgeschichtlichen Interessen. Swainson reiste von 1816 bis 1818 durch Brasilien und brachte von seiner Expedition eine Sammlung von über 20.000 Insekten, 1200 Pflanzen, und großartige Zeichnungen von 120 Fischen und 760 Vögel nach England mit. Auf der Basis seiner Funde gab er das Buch Zoological Illustrations (1820–23) heraus.