Wie kam die Orchidee auf die Fensterbank? Teil III: Die Welt als Untertan
Tatsächlich waren nicht nur Orchideen aus allen Erdteilen auf Reisen. Im frühen 18. Jahrhundert gelangten immer mehr exotische Gewächse nach Europa. Genau genommen waren schon zu dieser Zeit, lange bevor das Wort Globalisierung aufkam, Pflanzen rund um den Globus unterwegs. Das lag zum einen an besser ausgebauten Transportwegen, der Möglichkeit, tropische Gewächshäuser in kälteren Breitengraden zu errichten, und an Neuerungen wie der Erfindung des Ward’schen Kastens 1829. ¹)
Die Basis des Denkens ist der Vorteil
Basis des internationalen Pflanzentransfers waren aber nicht die technischen Neuerungen und die Möglichkeiten, in immer entferntere Gebiete vorzudringen. Die Basis des Pflanzentransfers war eine bestimmte Form des Denkens. Dass es der Mensch zu seinem Recht erklärt, diese Eingriffe in die Natur vorzunehmen. Warum? Weil es sein Vorteil ist. Die Eingriffe in die Natur nahmen in dem Ausmaß zu, indem das Vorteilsdenken zunahm, das im 19. Jahrhundert immer ausschließlicher von der Ökonomie bestimmt wird.
Bereits 1770 hatte Pierre Poivre ²) die Idee, Muskatnuss- und Gewürznelkenbäume von den Molukken zu der französischen Kolonie Ile de France (heute Mauritius) zu transferieren und dort in einem günstigen Klima anzubauen. Die Grande Nation kam damit an die luxuriös teuren Gewürze und durchbrach das niederländische Handelsmonopol. Das hatte Signalwirkung für alle Kolonialmächte.
In fremder Erde
Ganze Landstriche wurden als Folge ihrer natürlichen Vegetation beraubt. In fremder Erde wurde von Zuckerrohr, Kaffe, Vanille, Reis bis hin zu Orangen und Zitronen alles an Pflanzen und Bäumen kultiviert, was Handelswert hatte. So ließ das Britische Empire 1848 in geheimer Mission 20.000 Teepflanzen von China in seine indischen Kolonialgebiete schmuggeln und dort anbauen. Schon 1890 versorgte Indien, in dem es vorher keine Teepflanzen gab, 90 % des britischen Binnenmarktes mit Tee.
In dieser kolonialen Epoche war der Übergang von der wissenschaftlichen Erforschung unbekannter Flora zu dem, was wir heute Biopiraterie nennen, fließend. Benedikt Roezl (1823 – 1884), ein österreichisch-böhmischer Botaniker, sammelte auf seinen umfangreichen Reisen durch Panamerika über 100.000 Herbarienbelege ein. Von einer einzigen Expedition sandte er 80 Tonnen Pflanzen nach Europa. Ernst Henry Wilson, der langjährige Leiter des Herbariums im Arnold Arboretum in Boston, USA, markierte 1904 im Chinesischen Min Tal den Standort von 6.000 Blumenzwiebeln der begehrten Königslilie (Lilium regale), um sie ausgraben zu lassen. ³)
Die Ausfuhr exotischer Pflanzen war vollkommen ungeschützt. Die Ursprungsländer hatten den Begehrlichkeiten der Kolonialmächte wenig bis nichts entgegenzusetzen. Als man 1848 Joseph Dalton Hooker, Sohn des Direktors von Kew Gardens, den königlichen Gärten Englands, die Einreise nach Sikkim verweigerte und ihn verhaften ließ, wurde aufgrund dieses Zwischenfalls das südliche Sikkim annektiert und zum Besitz des Britischen Empire erklärt.
Darwin als Wendepunkt
Die Erkenntnis, dass jeder Eingriff in die Natur zu unabsehbaren Veränderungen führt, beginnt erst mit der Wahrnehmung der Evolution, mit Charles Robert Darwin (1809 – 1882). Sein Buch „On the Origin of Species“ erschien 1859 und markiert einen Wendepunkt im Begreifen von Natur. Eine Schlussfolgerung aus seinem Werk ist entscheidend für unsere Orchidee auf der Fensterbank: nur die Arten der Natur überleben, die sich an Veränderungen anpassen können.
Abb. Cattleya trinae ernesti
Illustration: Henry Moon (1857 – 1905)
Reichenbachia, Orchids Illustrated & Described, 1888 – 1894, Hrsg. Frederick Sander
Quelle: Wikipedia Commons
Anmerkungen
¹) Eine Art tragbares Mini-Gewächshaus, mit dem tropische Pflanzen die langen Seereisen mit ihren klimatischen Veränderungen überleben konnten.
²) Der Franzose Pierre Poivre lebte als Aufklärer, Missionar (in China und Cochinchina), Verwalter (von Mautitius und Reunion) und Gartenbaufachmann universell gebildet. Er war Anhänger des Physiokratismus (griechisch für „Herrschaft der Natur“), eine von Francois Quesnay begründete ökonomische Schule, die erste systematische Ansätze zur Erklärung volkswirtschaftlicher Strukturen und Prozesse entwickelte. Ausgangspunkt war die Auffassung, dass der Grund und Boden der einzige Ursprung des Reichtums eines Landes sei. Nur die Landwirtschaft könne einen Überschuss der Produktion erzielen. Dagegen formten Handel und Gewerbe landwirtschaftliche Produkte lediglich um.
³) Fry Carolyn, Pflanzenschätze, München, 2010, s. 33 und s.46