Ganz allgemein betrachtet ist eine Spezies ausgestorben, wenn es von ihr kein Exemplar mehr auf dieser Erde gibt. Damit fangen schon die Fragen an. Wie kann man das definitiv wissen? Und welche Grundlagen zieht man dafür heran? Denn wir wissen noch nicht einmal ansatzweise genau, wie viele Arten es überhaupt gibt. Im Moment sind rund 1,7 Mio erfasst. Die Schätzungen, wie viele Arten es tatsächlich sind, bewegen sich zwischen 5 Mio und 100 Mio.
Die Dinosaurier, die bis vor 65 Millionen Jahren hier lebten, sind ein ganz klarer Fall. Alle Ausgrabungsfunde wie Zähne, Knochen, Eier, Spuren von Magenresten, lassen sich bis in die angegebene Zeit datieren. Kein Fund ist jünger. Angenommen wird daher, dass die Dinosaurier sozusagen schlagartig verschwanden. Die überwiegenden Zahl der Wissenschaftler geht bei ihnen von einem Massensterben aus, ausgelöst von einer Katastrophe, wie dem Einschlag eines riesigen Meteoriten.
Aussterben kann aber auch ein fortschreitender Prozess sein, in dem sich eine Art immer weniger fortpflanzt. Zum Beispiel weil sich die klimatischen Bedingungen oder der Lebensraum verändern. Hier ist die Definition „ausgestorben“ schwieriger. Die dafür maßgebliche Organisation IUCN (International Union for Conservation of Nature and Natural Resources), wendet den Begriff für ihre Statistik an, wenn 50 Jahre lang kein Exemplar einer Art mehr gesichtet wurde. „Gesichtet“, das ist ein ziemlich fragiler Begriff, weil er mit der Wahrnehmung des Menschen verbunden ist.
Ausgestorben oder hoch gefährdet?
Die Zahl 50 kann deshalb nur ein Grenzwert sein. Wie bei dem berühmten „Augsburger Bär“ (Pericallia matronula), der hier abgebildet ist. Er zählt zu den Arten, die sowieso nur in einer geringen Zahl in einem eng begrenzten regionalen Gebiet auftreten. Allein von dieser Begrenzung her ist er hoch gefährdet. Der Augsburger Bär ist ein großer Nachtfalter, dessen Lebensraum in Deutschland die Lechauen um Augsburg waren. Er verschwand mit der Auenlandschaft und wurde in der Augsburger Gegend in den 1970er Jahren zum letzten Mal gesehen. In der Roten Liste des Bundesamtes für Naturschutz von 2011 wird er als „es“ (extrem selten) eingestuft. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass sich noch ein Exemplar bei Augsburg findet, ist äußerst gering.
Ausgestorben oder hoch mobil?
Aber gerade bei Schmetterlingsarten ist die Prognose ausgestorben nicht immer endgültig. Schmetterlinge haben Flügel und sind deshalb hoch mobil in der Wahl ihres Lebensraumes. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass gerade die Schmetterlingsfamilien der Schwärmer oder Eulen ihr Habitat wechseln. Und dass es zu der einen oder anderen ausgestorbenen Art immer noch einen Wiederfund geben kann.
Ausgestorben oder lang nicht mehr gesehen?
Deshalb wäre manchmal die Umschreibung „seit … nicht mehr gesehen“ richtiger. Ein interessantes Beispiel dafür ist die Pflanzenart Anamochloa marantoidea. Hinter dem imposanten Namen verbirgt sich ganz einfach – Gras. Ein ganz besonderes allerdings, es zählt zu den ältesten und seltensten Pflanzen der Erde. In seinem Erbgut steckt Information, mit der sich die Evolution aller heutigen Gräser besser verstehen lässt.
Anamochloa marantoidea wurde von europäischen Forschern im 19. Jahrhundert in Brasilien, im Atlantischen Regenwald (mata atlantica) entdeckt und in drei Schriften veröffentlicht.*1 ) Dann verschwand das Gras zusammen mit dem Atlantischen Regenwald. Geschätzt wird, dass der Atlantische Regenwald einmal 80 % der Oberfläche Brasiliens bedeckte, heute sind es nur noch 4 %. Bis in die 1980er Jahre galt Anamochloa marantoidea als ausgestorben. Doch dann präsentierte der brasilianische Holzfäller Talmon Soares dos Santos die Pflanze mit anderen sehr seltenen Pflanzenfunden einem amerikanischen Forscherteam und zeigte ihnen die Stelle, an der es wächst. Um die Pflanze zu schützen, wird der Ort geheim gehalten.*2) Lange nicht mehr gesehen bedeutet also nicht zwingend ausgestorben.
Ausgestorben und zerstört
Wenn der Kupferstecher Jakob Hübner im 18. Jahrhundert einen einzelnen Schmetterling wie den Augsburger Bären mit großer Genauigkeit in jedem Detail erfasst, dann zeigt das einen wissenschaftlichen Erkenntnisstand, den wir gerade überwinden. Denn kein Schmetterling, keine Pflanze existiert ganz allein nur für sich. Sie existieren vielmehr in einem hochkomplexen Zusammenspiel mit anderen Organismen ihrer Umwelt, das sich über Millionen von Jahren herausgebildet hat. Der größte Teil aller Arten auf dieser Erde sichert sein Überleben durch Symbiosen. Diese Allianzen des Überlebens zwischen den einzelnen Species sind eine große Antriebkraft der Evolution. Eine kleine Pflanze wie Gras ist mit einem ganzen Wald verbunden, der für sie lebensnotwendig ist. Ein bestimmter Schmetterling ist mit einem bestimmten Fluss verbunden, weil an seinen Ufern eine Vegetation wächst, die für ihn lebensnotwendig ist. Die Formen dieser Vernetzungen und deren Auswirkungen auf die Umwelt lernen wir wissenschaftlich gerade erst kennen.
Wenn ein Schmetterling oder eine Pflanze von der Erde verschwinden, heisst „ausgestorben“ also nicht, dass nur diese eine Art verschwindet. Ausgestorben bedeutet tatsächlich, dass die vielfältigen Symbiosen, die diese eine Art eingegangen ist, zerstört werden und der Mikrokosmos ihres Zusammenlebens seine Grundlagen verliert. Wenn eine Art ausstirbt, stirbt das gesamte System.
Wir machen deshalb um den Begriff „ausgestorben“ gegenwärtig ein so großes Aufhebens, weil dahinter eine Frage steht, die uns alle angeht. Wo in diesen vielfältigsten Beziehungssystemen steht der Mensch und wie viele zerstörte Natursysteme und Lebensräume kann er sich leisten?
1)
1851, Adolphe Theodore Brongniart, Annales des Sciences Naturelles; Botanique, sér 3, 16: 368, pl. 23
1862, Curtis’s Botanical Magazine, W. H. Fitch, Vol. 88 [ser. 3, Vol. 18]: t. 5331
1871, C. F. P. Von Martius (Ed. ) Flora Brasiliensis, Vol. 2: 1-32, fasicle 51, Taf. 7
2)
2008, Jürgen Neffe, Darwin, das Abenteuer des Lebens
Abb.: Augsburger Bär (Pericallia matronula), Jacob Hübner, Sammlung europäischer Schmetterlinge, 1838